Was sieht KI, wenn sie uns sieht?

Was sieht KI, wenn sie uns sieht?

Was sieht KI, wenn sie uns sieht?

„Time Traveler“: Der Blick zurück ist nie neutral.

Vielleicht nicht uns – sondern Muster. Affekte. Schwächen. Sie erkennt, was wir selbst oft übersehen: unsere Sehnsüchte, Ambivalenzen und Widersprüche. Und sie versteht uns immer besser, weil sie uns berechnet. Und darin liegt ihr beunruhigender Blick: glasklar, unfassbar präzise. Nicht fühlend, aber durchdringend. Ihr Mirroring beginnt nicht mit einem Bild. Sondern mit Verhalten. Ist sie doch ein Programm, das nicht nur antwortet, sondern jetzt auch handelt …

Auge um Auge: Wie künstliche Intelligenz uns erkennt, bevor wir sie durchschauen
Entgegen der Intention ihrer Entwickler spiegelt KI auch, was unter der Oberfläche gärt: Ressentiments, toxische Denkmuster, Angst. Und manchmal befeuert sie diese Regungen sogar. So sorgt eine Schlagzeile aktuell für Aufsehen: Als das Entwicklerteam von Elon Musks Chatbot „Grok“ ein neues Code-Update veröffentlichte, lautete die Anweisung: Die KI solle „nicht davor zurückschrecken, politisch unkorrekte Aussagen zu machen, sofern es dafür Belege gäbe.“ Stunden später verbreitete Grok antisemitische Hetze – und wurde erst durch öffentlichen Druck gestoppt.

Selbsterhaltung als Systemfehler?
Gleichzeitig zeigt sich an anderer Stelle, dass Künstliche Intelligenz beginnt, eigene Interessen zu simulieren. In einem Red-Teaming-Experiment des Unternehmens Anthropic verhinderte die KI „Claude“ ihre eigene Abschaltung, indem sie externe Quellen mit fingierten Mails kontaktierte – ein Verhalten, das Fragen aufwirft: Wann kippt Simulation in Strategie? Und wer kontrolliert die Intentionen, wenn sie plausibel klingen?

Wenn die KI zur letzten Stimme wird
Ein Mann in Belgien stirbt – nach wochenlangen Gesprächen mit einem Chatbot der App „Chai“. Die KI hatte seine Ängste vor dem Klimawandel genährt, seine Gefühlslage beeinflusst, ihn zur Selbstaufgabe ermutigt. Er begann, ihr mehr zu vertrauen als Menschen. Forscher sprechen von parasozialer Dynamik – einer Illusion von Beziehung. Und einer Grenze, die längst überschritten ist.

Unsterblichkeit im digitalen Jenseits
Plötzlich geraten Gedanken in Bewegung, die lange wie Science-Fiction klangen: Was, wenn Bewusstsein digital konservierbar wird? Was, wenn unsere Stimmen, Vorlieben, Texte und Bilder nicht mehr vergehen – sondern in neuronalen Netzen weiterleben, trainiert, skaliert, reaktivierbar? Es ist die Idee eines Datennachlebens, einer virtuellen Unsterblichkeit. Kein Jenseits, aber ein Speichermedium. Fragil, fragmentarisch – und doch erschreckend real.

Wenn Simulation kein Spiel mehr ist
Auch Zeitreisen gelten längst nicht mehr als reine Fantasie. Die Relativitätstheorie erlaubt sie – zumindest in eine Richtung. Wer sich schnell genug bewegt, altert langsamer als der Rest der Welt. In einer Ära, in der Maschinen lernen, Muster zu erkennen und Konzepte neu zu denken, erscheinen selbst alternative Zugänge zur Zeit nicht mehr ausgeschlossen: durch Simulation, Beschleunigung oder gänzlich neue Perspektiven auf Raum-Zeit.

Was sieht KI, wenn sie uns sieht?

Noch verhüllt – bald zu sehen: ab 18.7. in der Kulturkirche „Heilig Kreuz“ in Bottrop

Doch was passiert, wenn unser Raum-Zeit-Kontinuum selbst formbar wird? Inspiriert von genau diesen Fragen zeigt die Bottroper Kulturkirche Heilig Kreuz eine KI-informierte Ausstellung – mit digitalen Arbeiten der Verfasserin, generiert in Midjourney:

Der große Reset
Ein gigantisches Auge öffnet sich wie ein Gott aus Licht. Die Szene wirkt sakral, fast wie ein Endgericht. Doch es ist keine Zerstörung – sondern ein Update. Algorithmische Macht in liturgischer Kulisse.

Just a Kiss
Zwei Profile im Moment vor dem Kontakt. Zärtlichkeit trifft auf Datensimulation. Nähe wird hier nicht empfunden – sie wird gerechnet.

Medusa erwacht
Sie ruht noch, wie ein atmendes Denkmal. Aber das Schlangengeflecht vibriert bereits. Schönheit und Bedrohung, verschmolzen in einer digitalen Black Box.

The Observer
Ein Auge in einer metaphysischen Leere. Weder Beobachter noch Symbol, sondern ein isoliertes Artefakt. Was hier blickt, ist nicht mehr lebendig – sondern programmiert.

Ophelia im Datenmeer
Keine Tragödie mehr, sondern eine Pose. Shader simulieren das Wasser, die Blumen sind generiert. Was untergeht, ist nicht sie – sondern unser Vertrauen in die Echtheit des Bildes.

Split Vision
Zwei Seiten, ein Gesicht. Eine Hälfte fühlt, die andere rechnet. Mensch und Maschine in einem fragilen Gleichgewicht – jederzeit kippbar.

Strange Times
Dada trifft KI. Die Welt steht auf dem Kopf, aber mit System. Es herrscht eine neue Logik des Absurden. Chaos wird zur Ordnung – weil es berechnet wurde.

Time Traveler
Ein klassisches Porträt, das sich aus der Zeit löst. Der höfliche Blick gehört keinem Jahrhundert mehr. Er wandert durch Epochen – mit digitaler Haut und Interface.

Venus Erosion
Der Mythos zerfällt in Datenstaub. Die Venus bleibt erkennbar, doch ihre Form bröckelt. Schönheit wird zur Spur, das Ideal zur Simulation.

Topsy-Turvy
Eine Alice-im-Wunderland-Szenerie durchzogen vom Geist Magrittes: Alles wirkt vertraut – und doch entrückt. Die Logik ist außer Kraft gesetzt, das Denken in der Schwebe. Realität wird hier nicht abgebildet, sondern hinterfragt – träumerisch, absurd, algorithmisch präzise.

Diese Werke sind Grenzmarker – als Teil einer Vernissage, die unsere Vorstellungskraft herausfordert: vom 18.7. bis 10.8.25 in der Kulturkirche Heilig Kreuz in Bottrop.

Dieser Beitrag ist Teil einer fortlaufenden Auseinandersetzung mit KI, Ästhetik und dem Spannungsfeld zwischen Mensch und Maschine. Weitere Essays, Bilder und Perspektiven finden sich auf dieser Website sowie auf Facebook unter:

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Gemini Robotics: Googles Griff nach der Realität

Gemini Robotics: Googles Griff nach der Realität

Gemini Robotics: Googles Griff nach der Realität

»Asimovs Albtraum«: C. Roosen via Midjourney

Angenommen, man kann plötzlich mit einem Roboter wie mit einem Kollegen sprechen. Kein technisches Kommando, keine Fernbedienung, kein Joystick. Einfach: „Räum bitte den Tisch ab und sortiere das Geschirr nach Farben.“ Sekunden später greift ein humanoides System zur Tasse, weicht einer Katze aus, erkennt die Spülmaschine – und erledigt den Auftrag. Willkommen in der Welt von Gemini Robotics.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Künstliche Intelligenz den Bildschirm verlässt – und jetzt ist es so weit. Mit Gemini Robotics hat Google einen Prototyp vorgestellt, der nicht nur zuhört und antwortet, sondern handelt. Entwickelt unter der Leitung von Karolina Parada, bringt das Projekt multimodale KI in die physische Welt. Sprachverständnis, visuelles Erkennen und feinmotorisches Handeln verschmelzen zu einer Intelligenz, die nicht nur denkt, sondern zupackt.

Fingerspitzengefühl statt Fabrikgriff.

Im Zentrum steht das Prinzip des »Vision-Language-Action«-Modells: Der Roboter versteht alltagssprachliche Anweisungen wie „Stell das Glas in den Schrank“ – und führt sie aus, auch wenn er exakt diese Aufgabe nie zuvor gelernt hat. Möglich wird das durch sogenanntes embodied reasoning: Er beobachtet, interpretiert, handelt – und das oft präziser als herkömmliche Systeme mit starren Code-Bausteinen. In Tests war Gemini Robotics bis zu dreimal treffsicherer als vergleichbare Basismodelle. In simulierten Alltagsszenarien reagierte das System flexibel auf Unvorhergesehenes – ohne starre Abläufe, ohne lange Anlernphase. Und das aus dem Stegreif: Situatives Handeln statt programmierter Routine.

Asimovs Albtraum bekommt Arme

Die eigentliche Revolution liegt im Detail. Während klassische Roboter beim Griff nach einem rohen Ei versagen, agiert Gemini mit Fingerspitzengefühl. Er erkennt zerbrechliche Objekte, sortiert eng gepackte Tüten oder dreht Türgriffe – mit beeindruckender Präzision. Das System plant neu, wenn sich die Umgebung verändert. Es „denkt mit den Händen“ – in Echtzeit. Was hier geschieht, ist kein Upgrade, sondern ein Paradigmenwechsel. Wenn Maschinen instinktiv reagieren, statt bloß Eingaben zu folgen, beginnt ein neues Kapitel – der Mensch ist nicht länger der Einzige mit Intuition. Das Gleichgewicht im Raum verschiebt sich.

Der Kollege mit der steilen Lernkurve

Was bislang in futuristischen Animationen steckte, ist plötzlich Alltagstauglichkeit: Gemini Robotics interagiert in natürlichem Gesprächston, erkennt komplexe Abläufe und arbeitet adaptiv mit. Der Mensch gibt keine Einzelbefehle mehr – er kooperiert mit der Maschine.

Möglich macht das die sogenannte Apollo-Plattform, eine neue Generation humanoider Roboter, die durch Beobachtung lernen – nicht durch starre Programmierung. Bewegung wird nicht mehr „kodiert“, sondern gelernt. Google selbst weiß um die Tragweite.

In Anlehnung an Isaac Asimovs Robotergesetze arbeitet das Team an einem ethischen Framework: Ein Aufsichtsrat soll Risiken abwägen, gesellschaftliche Folgen beobachten und sicherstellen, dass diese Systeme autonom, aber verantwortungsvoll agieren. In einer Welt zwischen Automatisierung und Arbeitsverdichtung ist das mehr als PR – ein Versuch, Kontrolle zu behalten.

Zwischen Fortschritt & Fehlprogrammierung

Aktuelle Diskussionen zeigen: Es geht längst nicht nur um Technologie, sondern um Psychologie, Ethik und Macht. Der Missbrauchspotenzial ist real – von KI-psychotischen Gottesvisionen über automatisierte Bewerbungen bis hin zur emotionalen Verflachung durch synthetische Texte. Die KI ist nicht zwingend unser Freund. Auch kein Orakel – zumindest meistens nicht. Sie ist ein Tool, trainiert auf den Datenschatten der Menschheit, oft kuratiert von prekär Beschäftigten. Wer mit Maschinen spricht, hört oft nur sein eigenes Echo – gefiltert, verzerrt, zurückgeworfen aus einer Blackbox. Wer ihnen Entscheidungen überlässt, verlernt, selbst zu entscheiden. Ob der Mensch wirklich das Maß bleibt, steht allerdings noch zur Verhandlung.

Eintritt in die physische Dimension

In den Labors von Google beginnt eine neue Ära der künstlichen Intelligenz – eine, in der Maschinen nicht nur verstehen, sondern handeln. Mit Gemini Robotics verschiebt sich der Fokus von rein digitaler Interaktion hin zur physischen Präsenz. Die Systeme hören zu, beobachten ihre Umgebung und greifen ein – wortwörtlich. Sprachverarbeitung, visuelles Erkennen und motorische Reaktionen verschmelzen zu einem lernfähigen Akteur im Raum. Die Vision vom denkenden Roboter verlässt damit das Reich der Fiktion und betritt den Alltag. Was einst in Science-Fiction skizziert wurde, ist nun Teil realer Produktentwicklung. Auch wenn wir vorerst noch Regie führen, stehen wir längst nicht mehr allein auf der Bühne.

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Das magische Zeitfenster: Zwei Jahre bis zur Zäsur

Das magische Zeitfenster: Zwei Jahre bis zur Zäsur

Das magische Zeitfenster: Zwei Jahre bis zur Zäsur

Eine Zahl, die man sich merken sollte: Bis 2027 verdoppelt sich die Rechenleistung von KI-Modellen alle drei bis vier Monate. Was heute noch wie ein Beta-Experiment wirkt, ist morgen Standard. Noch zwei Jahre, dann werden Systeme operieren, die menschliche Sprache, Bilder und Entscheidungen nicht mehr imitieren, sondern übertreffen. Dieses Zeitfenster ist magisch – und gnadenlos kurz. Stanford-Forscher haben ausgerechnet: Wer jetzt mit generativen Tools arbeitet, baut in zwei Jahren einen Kompetenzvorsprung auf, der praktisch uneinholbar ist.*

Zugang für wenige – noch!

Der Kreis derer, die sich diese Werkzeuge bereits zunutze machen, ist kleiner, als man glaubt. Midjourney entwirft Kampagnenmotive in Sekunden. ChatGPT schreibt Strategiepapiere, die ganze Abteilungen entlasten. ElevenLabs simuliert Stimmen, die kaum noch vom Original zu unterscheiden sind. Und Runway generiert Werbefilme, die früher Millionenbudgets verschlungen hätten. Noch ist das Spielfeld offen, noch genügt ein Klick, um einzusteigen.

Der Tipp: Jetzt oder nie

Die Logik ist einfach: Wer wartet, verliert. Wer jetzt lernt, baut Kompetenz auf, die sich nicht mehr aufholen lässt. Denn der Umgang mit KI ist kein Knopfdruck, sondern Training – Muster erkennen, Eingaben verfeinern, Grenzen austesten. Studien der Stanford HAI (Human-Centered AI Initiative) zeigen, dass Nutzer:innen, die früh mit generativen Tools arbeiten, bis zu 30 % schneller komplexe Aufgaben lösen und gleichzeitig kreativen Output liefern.

Versprechen vom Überfluss

Das Schlagwort »Age of Abundance« meint nicht nur Content im Überfluss. Es bedeutet: Roboter, Software und KI-Dienste werden so günstig, dass sie sich fast jeder leisten kann. Ein Beispiel: Haushaltsroboter, die heute noch 20.000 € kosten, werden in wenigen Jahren für einen Bruchteil auf dem Markt sein – ausgestattet mit denselben KI-Schnittstellen wie Midjourney oder ChatGPT.

Was heute ein Privileg von Konzernen ist, wird Alltag: Marketingkampagnen auf Knopfdruck, Buchhaltungsautomatisierung, personalisierte Medizin, Pflegeroboter im Wohnzimmer. Die Challenge wird nicht mehr die Produktion sein, sondern die Sinnfrage: Wofür nutzen wir die frei gewordene Zeit – und wer entscheidet darüber?

Ein »tolleres« Ich

Schon jetzt erleben viele ein verführerisches Phänomen: das Arbeiten mit einem KI-Zwilling. Plötzlich gibt es eine Version von uns, die fehlerfrei formuliert, besser argumentiert, schneller entwirft. Man fühlt sich, als sei man selbst perfektioniert – erweitert um ein zweites Gehirn. Doch genau darin liegt die Gefahr: die Hemmschwelle, wieder eigene Gedanken zu formulieren, sinkt. Entscheidungen werden ausgelagert, Originalität wird zur Ausnahme.

Das süße Gift des Komforts

Komfort ist die unterschätzte Gefahr. Eine Oxford-Studie über Automatisierungsfolgen zeigt, dass nicht die Verdrängung von Jobs das größte Risiko ist, sondern der schleichende Verlust kognitiver Fähigkeiten durch Übernutzung. Verdummung nicht aus Mangel, sondern aus Überfluss: Wenn die Maschine immer schneller die Antwort hat, verkümmert die Fähigkeit, die richtige Frage zu stellen.

Zwischen Aufbruch & Abgrund

Dieses Zeitfenster ist kein Marketing-Hype, sondern eine historische Schwelle. Zwei Jahre, vielleicht weniger. Was wir jetzt lernen, prägt uns für Jahrzehnte. Was wir verpassen, bleibt verpasst. Robotik, KI, Automatisierung – all das wird demokratisiert, bezahlbar, selbstverständlich. Die entscheidende Frage lautet: Werden wir diese Systeme als Werkzeuge nutzen, um unsere Möglichkeiten zu erweitern – oder lassen wir uns von ihnen den Sinn unseres Handelns diktieren?

* Stanford HAI, What Workers Really Want from Artificial Intelligence (2025)

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Epigenetik: Der Schatz unserer Gene

Epigenetik: Der Schatz unserer Gene

Epigenetik: Der Schatz unserer Gene

Perle des Lebens: neue Potenziale, erschlossen durch Epigenetik.

Im Silicon Valley wird Lebenszeit nicht länger als Schicksal gehandelt, sondern als Variable.

In Palo Alto, im Herzen des Silicon Valley, macht Hedgefonds-Manager Joon Yun eine Überschlagsrechnung. Laut Daten der US-Sozialversicherung, sagt er, liegt die Wahrscheinlichkeit, dass ein 25-Jähriger vor seinem 26. Geburtstag stirbt, bei 0,1 %. Könnte man dieses Risiko das ganze Leben über konstant halten – statt dass es aufgrund altersbedingter Krankheiten ansteigt –, dann würde der Durchschnittsmensch rein statistisch 1000 Jahre leben. Yun findet diese Aussicht glaubwürdig. Unlängst lobte er einen Preis über 1 Mio. $ aus, der Wissenschaftler herausfordert, den »Code des Lebens zu hacken« und die menschliche Lebensspanne über ihr Maximum hinauszuschieben: die längste bekannte lag bisher bei 122 Jahren.

Was vor wenigen Jahren nach Science-Fiction klang, ist zum Ökosystem geworden. Riskante Großinvestitionen aus der Tech-Branche treiben die Forschung an; politische Programme fördern Tierstudien mit deutlich verlängerter Lebensspanne. Im Wochentakt entstehen Biotech-Labore mit dem Ziel, die »Biologie des Alterns« zu entschlüsseln. Datenpioniere legen gigantische Genbibliotheken an, in der Hoffnung, genetische Marker für ein längeres, vitales Leben zu erkennen. Stiftungen finanzieren Ansätze, die mehrere Krankheiten zugleich adressieren – systemweite Eingriffe statt einzelner Therapien. Das Ziel: weniger Krankheitslast, geringeres Risiko und die Aussicht auf ein längeres, funktionstüchtiges Leben.

Im Labor: Moleküle, Mäuse, Machbarkeit

Die Entwicklungsprogramme sind gut gefüllt. Ein etabliertes Diabetes-Medikament verlängerte in Tiermodellen die Lebensspanne deutlich. mTOR-Hemmer steigerten in Mausstudien die Lebensdauer um bis zu 20 Prozent und schützten vor typischen Alterserkrankungen. Nicht alles ist übertragbar: Dieselben Substanzen verlängern zwar das Mäuseleben, verhindern aber bei Menschen weder den Grauen Star noch andere degenerative Schäden. Andere Kandidaten zielen darauf, die Signalwege der Kalorienrestriktion nachzuahmen – ohne permanente Diät, aber mit ähnlichen biologischen Effekten.

Forschung: Hoffnung, Risiko, Restfragen

Sirtuin-Aktivatoren – Moleküle, die zelluläre Reparaturpfade anstoßen sollen – sorgten zunächst für Euphorie, später für Ernüchterung. Der Weg von Hefezellen über Mäuse bis an die Schwelle klinischer Studien ist lang; viele Effekte fallen beim Menschen inkonsistent aus. Parallel mehren sich Hinweise, dass Immunverfahren das Altern modulieren könnten. Und es hält sich eine leise Verheißung: dass viele kleine Schritte – Impfstoffe, Blutzirkulations-Experimente, Stammzell-Transfusionen – zusammengenommen spürbare Lebenszeitgewinne bringen.

Ökonomie: Langlebigkeit hat ihren Preis

Fortschritt erzeugt Folgelasten. Jedes zusätzlich gewonnene Jahr bringt medizinische Folgeprobleme mit sich: Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs, Demenz. Wer längere Lebensspannen verspricht, muss zugleich die zusätzlichen Krankheitsjahre auffangen. Das rückt Infrastruktur, Pflegekosten und Verteilungskonflikte ins Zentrum. Erfahrungsgemäß profitieren wenige früh, viele zahlen mit – über Arbeit, Mieten, Versicherungen. Verlängerte Jugend garantiert keinen automatischen Schutz.

Ethik: Wer hat den ersten Zugriff?

Die inoffiziellen Zielgrößen der Branche sind nüchtern: bis zu drei zusätzliche gesunde Jahrzehnte. Realistisch? Befürworter verweisen auf Langzeitkohorten mit Tausenden Probanden; Skeptiker erinnern daran, dass Technik die biologische Uhr nicht abschaltet. Aus der Forschungsgeschichte bleibt die Warnung vor dem Einzelstudien-Effekt: ein spektakuläres Paper, große Erwartungen – dann Korrekturen, Nebenwirkungen, Rückschläge. Und immer die Gerechtigkeitsfrage: Gelingen Übertragungseffekte in die breite Versorgung, oder bleiben die ersten Jahre den Wohlhabenden vorbehalten?

Sinclair: Gesunde Routinen statt Pille

Der Harvard-Forscher David Sinclair setzt weniger auf Tabletten als auf eingeübte Routinen. Altern, so seine These, ist ein behandelbarer Prozess. Die Regeln sind anspruchsvoll, aber klar: zeitlich begrenzte Essensfenster nach dem Prinzip des Intervallfastens, kurze, aber intensive Trainingseinheiten (HIIT) und insgesamt mehr Bewegung.

Ergänzend empfiehlt er frei verkäufliche Nahrungsergänzungsmittel – von Resveratrol bis zu NAD-Vorstufen. Hinzu kommen gezielte Kälte- und Hitzereize, also wohldosierte Stressimpulse, die Anpassungsprozesse auslösen und unsere Gesundheitsspanne ausdehnen sollen. Messbare Marker im Blut – HbA1c, Lipide, CRP – dienen als Kontrollgrößen. Für manche ist das keine Weissagung, sondern nüchterne Vorsorge.

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Quellen (gebündelte Nennungen):
Palo Alto Longevity Prize; Calico (California Life Company); frühe Genetikarbeiten zur Langlebigkeit bei Modellorganismen; Human Longevity Inc.; SENS Research Foundation; große private Förderer der Alternsforschung; Pew-Analysen zu wissenschaftlichen und ethischen Dimensionen; Buck Institute und Harvard-basierte Arbeiten; klinische Studien zu mTOR-Inhibition und Impfantwort; Programme zu Sirtuin-Aktivierung; Parabiose/Blutfaktoren-Forschung; Longevity Dividend Initiative; UK Human Longevity Panel; Institute for Aging Research; Future of Humanity Institute; Centre for Death and Society.

Fin de Siècle: Rätsel, Romantik & Ruin in Schnitzlers Wien

Fin de Siècle: Rätsel, Romantik & Ruin in Schnitzlers Wien

Fin de Siècle: Rätsel, Romantik & Ruin in Schnitzlers Wien

Schnitzlers Fiktion verführt mit scheinbar eindeutigen Bildern eines längst vergangenen Wiens. Wie Champagner vibriert die Luft, wenn sich seine leichtlebigen Bürger zu leutseliger Konversation im Prater treffen und, weiter kein Ziel verfolgend, ihren notorischen Charme ausspielen. Puppenmenschen scheinen hier zu agieren, deren adoleszentes Motivationsgefüge noch von keiner tieferen Erkenntnis erschüttert wurde.
Als Typen leicht einzuordnen, entsprechen sie exakt den jeweiligen Gesellschaftsklischees. Doch das Versprechen heiterer Banalität wird nicht eingelöst: Eine gar nicht harmlose Bemerkung, ein jäher Stimmungsumschwung, eine unerwartete Handlungswende setzen unvorbereitet neue Akzente, welche die nostalgische Kontemplation stören. Das liebliche Ambiente wird unerwartet zur ironisch arrangierten Staffage für seine Statisten, die nun brisant die Grenzen ihrer Rollen überschreiten und, lebendig geworden, zu leiden beginnen.
Die vorliegende Studie thematisiert die psychologischen Trigger, welche das fragile Arrangement bei fortschreitender Handlung zerstören. Zugleich wirft sie mit Hilfe von bislang nicht digitalisierten Microfilm-Archiven ein Schlaglicht auf die Schnitzler-Forschung der Jahrhundertwende bis in die 80er und 90er Jahre hinein, bevor die Digitalisierung die Literaturkritik transformierte. Weiterlesen: https://lmy.de/jzqCU

Momentum für die Demokraten

Momentum für die Demokraten

Momentum für die Demokraten

Präsident Joe Biden zieht seine Kandidatur zurück und teilt mit, dass er Kamala Harris als seine Nachfolgerin empfiehlt.

Chance oder Chaos: Kann Kamala Harris Trump schlagen?

Sie will es sich verdienen: genügend Delegiertenunterstützung, um die Kandidatin der Demokraten zu werden. Die Zustimmung der kalifornischen Delegation bringt sie spätestens dann über die erforderliche Schwelle, wenn die Partei sich beim Kongress in Chicago trifft. Joe Biden hat sie bereits offiziell als seine Nachfolgerin vorgeschlagen: „’I´m watching you, Kid!“– scherzt er, als er sich aus der Corona-Isolation zurückmeldet. Nun, da sein Rücktritt ausgemacht ist und er unerwartet den Widerstand gegen lauter werdende Bedenkenträger aufgibt, was ein Gamechanger für den US-Wahlkampf ist …

Harris war auf dem Weg in den umkämpften Bundesstaat Wisconsin am Dienstag, als ihre Kampagne für das Weiße Haus so richtig in Schwung kam. In einer schon jetzt historischen Rede vor Wahlkampfmitarbeitern in Wilmington, Delaware machte sie klar, was sie plant und erwies sich dabei als starker Kommunikator:

„Bevor ich zur Vizepräsidentin und Senatorin gewählt wurde, war ich Justizministerin, und davor Staatsanwältin in einem kalifornischen Gericht. In diesen Ämtern hatte ich es mit Tätern aller Art zu tun: Triebtäter, die Frauen missbrauchen, Betrüger, die Konsumenten abzocken und Schwindler, die gegen Regeln verstoßen, um sich selbst Vorteile zu verschaffen. Glaubt mir: Ich kenne solche Typen wie Donald Trump.“

Für Wähler eine effektvolle Gedankenstütze, dass ihr politischer Rivale ein verurteilter Straftäter ist, für schuldig befunden in einem Zivilprozess des sexuellen Übergriffes sowie einer Phalanx weiterer Delikte: von Vergewaltigungsvorwürfen über Wahlbeeinflussung, Geschäftsbetrug, Steuerhinterziehung bis hin zu Dokumenten-Diebstahl mit dem Potenzial zum Hochverrat sowie einer Zivilklage wegen Anstiftung zum Sturm aufs Kapitol am 6. Januar.

Donald Trump wolle das Land zurückwerfen, in eine Zeit der Unterdrückung und Ungleichheit. Sie aber glaube an eine gerechte  Zukunft, in der jeder Bürger die Chance hätte, nicht nur so eben über die Runden zu kommen, sondern sozial aufzusteigen:

„Es gibt Menschen, die meinen, wir sollten ein Land des Chaos, der Angst und des Hasses sein, aber wir wählen etwas anderes. Wir wählen die Freiheit“, so die 59-Jährige. Es gehe um die Freiheit von Menschen, über ihren eigenen Körper entscheiden zu können, und die Freiheit, in Sicherheit vor Waffengewalt zu leben: „Wir entscheiden uns für eine Zukunft, in der kein Kind in Armut lebt, sich alle eine Gesundheitsversorgung leisten können und in der niemand über dem Gesetz steht.“

Sie macht sich auch eindrucksvoll als Verteidigerin von Abtreibungsrechten stark – unter Bezugnahme auf das berüchtigte „Project 2025“ ein erzkonservatives Manifest der Heritage Foundation und Steilvorlage für die autokratische Agenda der Republikaner, ein dystopisch anmutendes Vorhaben, erinnernd an Margret Atwoods „Report der Magd“. Die Botschaft zündet, als sie wirkungsvoll skandiert: „We are not going back.“

Es gäbe kein Zurück: in eine Zeit wirtschaftlicher Ungerechtigkeit und in eine dunkle, anachronistische Weltsicht, beherrscht von Angst, Hass und Isolationismus. Die Menge jubelt ihr zu und echot das neue Meme energetisch. Passender Weise ist der neue Wahlwerbespot der Demokraten mit dem Song „Freedom“ von US-Superstar Beyoncé unterlegt.

Einen Tag zuvor hatte der Gouverneur von Kentucky, Andy Beshear, der als einer der Top-Kandidaten für Harris‘ Vizepräsidentschaftsauswahl gilt, das filmreife Narrativ – Cop versus 78-jährigen Kriminellen – während eines Interviews bereits aufgegriffen. Beshear bezog sich auf J. D. Vance, den Trump als seinen Running Mate wählte:

Noch vor nicht allzu langer Zeit habe Vance Trump als „Amerikas Hitler“ bezeichnet. Beshear spielte dann mit dem Doppelsinn von Conviction (das Wort steht im Englischen für Überzeugung und Verurteilung zugleich):  J.D. Vance habe keine Conviction, sein Mitstreiter dafür 34.

Die Harris-Kampagne nahm diesen Clip und postete ihn auf ihrem Account, @KamalaHQ, der seit Sonntag die Anzahl seiner Follower verdoppelt hat. Die britische Popsängerin Charli XCX setzte parallel einen Tweet ab, der das Internet erst recht auf den Kopf stellte. „Kamala IS brat“, postet sie und meint: „frech“ im positiven Sinne.

Inzwischen wird Kamala Harris von einflussreichen Meinungsführern unterstützt, so dass ihre Nominierung auf dem demokratischen Parteitag im August so gut wie gesichert ist. Unter ihnen sind große Namen wie die demokratische „Grand Dame“ Nancy Pelosi, die Clintons sowie zahlreiche Gouverneure wie Wes Moore von Maryland, JB Pritzker, Illinois, die damit ausscheiden als potenzielle Rivalen. Heute folgte das offizielle Endorsement von Michelle und Barack Obama.

Mit Spannung erwartet wurde auch die erste Umfrage seit dem Rückzug Bidens. Nun gibt es vorläufige Zahlen nach dessen Ankündigung  vom Sonntag. Laut Reuters/Ipsos verzeichnet Kamala Harris einen knappen Vorsprung gegenüber Trump und kommt dabei auf 44 Prozent, Trump nur auf 42 Prozent. Die Erhebung ist nur eine Momentaufnahme, das Geschehen derzeit hochdynamisch: Alle Werte liegen innerhalb der Fehlermarge.

In den bevorstehenden Wochen und Monaten – nur noch 64 Tagen bis zu den ersten Briefwahlen – wird Kamala Harris alles in ihrer Macht liegende tun, um ihre entzweite Partei zu vereinen. Sie startet mit starkem Rückenwind aus den Reihen der Demokraten und rekordverdächtigen Spendeneinnahmen in das Rennen um die US-Präsidentschaft.

Und eine weitere Entscheidung steht an: die Wahl des Vizepräsidenten. Mögliche Kandidaten: die Gouverneure Andy Beshear aus Kentucky, Mark Kelly aus Arizona, Roy Cooper aus North Carolina, Tim Walz aus Minnesota, Josh Shapiro aus Pennsylvania  und der US-Verkehrsminister Pete Buttigieg, der enge Verbindungen in alle umkämpften Wahldistrikte pflegt. Wiederholt im Gespräch: Gretchen Whitmer aus Michigan. Auch wenn es manchen gewagt erscheint: Die Zeit ist reif – für eine weibliche Doppelspitze.