Virtuelles Jenseits: Himmel oder Falle?

Virtuelles Jenseits: Himmel oder Falle?

Virtuelles Jenseits: Himmel oder Falle?

Der letzte Upload: Unsterblichkeit im Datenstrom?

Ewiges Leben im Serverraum: Was einst Science-Fiction war, rückt unaufhaltsam näher. So genannte ›Deathbots‹ versprechen Trost – und drohen doch, Trauer, Ethik und Erinnerung aus den Angeln zu heben.

In der Amazon-Serie Upload ist der digitale Himmel wie ein Geschäftsmodell aufgebaut. Wer stirbt, kann sein Bewusstsein in eine luxuriöse Simulation hochladen lassen – ein Resort mit Marmorbad, Seeblick und Concierge-Service. Doch jeder Komfort kostet extra.
Datenvolumen, Mahlzeiten, selbst der Sonnenuntergang: Alles wird abgerechnet wie bei einem Freemium-Account. Für jene ohne Mittel bleibt nur eine abgespeckte, eingefrorene Version des Jenseits – das ewige Leben auf Sparflamme.

Digitale Paradiese im Testlauf

Auch Netflix hat diese Option schon durchgespielt: Die dritte Staffel von Black Mirror zeigt in der Episode ›San Junipero‹ eine digitale Ewigkeit, die zwischen grellbuntem 80er-Jahre-Strand und steriler weißer Leere pendelt.
Mal wirkt sie tröstlich, mal verstörend, doch immer bleibt die Ahnung, dass es sich um eine Illusion handelt, die mehr Fragen aufwirft, als sie beantwortet. In der Schlussszene funkeln blinkende Netzwerke wie ein künstlicher Sternenhimmel – virtuell real, und doch unwirklich.

Aus Fiktion wird Wirklichkeit

Heute ist diese Vision näher gerückt, als es vielen bewusst ist. Die digitale Moderne hat den Tod neu definiert. Nicht mehr nur Grabsteine und Erbfolgen markieren unser Ende, sondern auch die Frage: Was geschieht mit unseren Daten – und dürfen sie in eine Art „zweites Ich“ verwandelt werden? Schon jetzt existieren sogenannte Deathbots: KI-Systeme, die aus Sprachaufnahmen, Nachrichten und Fotos synthetische Abbilder Verstorbener erzeugen. Sie sprechen, reagieren, simulieren Nähe. Anders als Fotos oder Briefe, die Erinnerungen bewahren, schaffen sie eine Illusion des Weiterlebens – eine Präsenz ohne Körper.

Trost, der ins Gegenteil kippt

Für Hinterbliebene kann das tröstlich sein: ein letzter Dialog, ein simuliertes Lachen, das Gefühl, eine Stimme noch einmal zu hören. Deathbots können die Lücke füllen, die der Tod reißt, indem sie ein Echo des Vertrauten liefern – manchmal so überzeugend, dass es kaum von echter Erinnerung zu unterscheiden ist. Angenommen, eine Frau öffnet ihr Handy und hört die Stimme ihres längst verstorbenen Vaters. Er gratuliert ihr zum Geburtstag, erzählt Anekdoten aus alten Nachrichten – fast so, als sei er noch da. Für einen Moment entsteht der Eindruck, der Tod sei nur verschoben, eingefroren in einem virtuellen Raum.

Wenn Erinnerung zur Falle wird

Doch gerade darin liegt die Gefahr. Trauer ist ein Prozess, der Distanz schafft, Schritt für Schritt. Wer jedoch in endlosen Unterhaltungen mit einem Algorithmus bleibt, läuft Gefahr, in einer Parallelwelt steckenzubleiben – halb Erinnerung, halb Illusion. Statt sich an Vergangenes zu gewöhnen, entsteht ein „ewiges Jetzt“, das weder endgültig verabschiedet noch wirklich weiterleben lässt. Psycholog:innen warnen deshalb, dass der Abschied dadurch nie vollzogen wird. Die Maschine gibt Antworten, aber keine Gegenwart. Sie reagiert, doch sie teilt kein Leben. Am Ende kann das, was als Stütze gedacht war, in eine ungesunde Abhängigkeit kippen: ein digitaler Schatten, der das Loslassen verhindert.

Die Grauzone der Zustimmung

Besonders heikel ist die Frage der Zustimmung. Viele Menschen sterben, ohne jemals entschieden zu haben, ob ihre digitalen Spuren nach dem Tod wiederbelebt werden dürfen. Manche Anbieter koppeln die Existenz solcher Avatare bereits an Geschäftsmodelle – wer zahlt, darf weiterchatten; wer nicht, verliert den Zugang. Auch juristisch klaffen Lücken. Selbst eine klare Verfügung im Testament – etwa mit dem ausdrücklichen Wunsch, nicht digital wiederbelebt zu werden – wäre schwer durchzusetzen. Die Vorstellung, dass ein Algorithmus die Stimme eines verblichenen Angehörigen imitiert und automatisch Nachrichten verschickt, wirkt wie eine Groteske – und doch ist sie technisch längst realisierbar.

Vom Schock zur Gewöhnung

Technologie folgt oft einem wiederkehrenden Muster: Zuerst der Schock, dann die Gewöhnung, schließlich die Regulierung. So könnte auch digitale Unsterblichkeit in den kommenden Jahrzehnten zum Alltag gehören – vielleicht ebenso selbstverständlich wie heute Online-Gedenkseiten. Doch mit dieser Normalisierung verändert sich der Blick auf das eigene digitale Leben. Jede Nachricht, jeder Post könnte zum Rohstoff eines späteren Avatars werden. Die Frage lautet nicht mehr nur: Was sage ich hier und jetzt? Sondern: Wie wird es klingen, wenn ich längst nicht mehr da bin?

Ewigkeit als Zumutung

Menschen, die heute ihren Nachlass regeln, stehen damit vor einer paradoxen Situation. Sie können Häuser, Konten und Bestattungsformen bestimmen – aber nicht verhindern, dass ihre digitalen Reste weiterleben. Stimmenklone sind bereits täuschend echt. In wenigen Jahren werden auch Nuancen wie Lachen, Atemzüge und Pausen imitiert. Die eigentliche Frage ist deshalb nicht, ob digitale Unsterblichkeit kommt. Sondern: Wie wollen wir ihr begegnen – als tröstende Erinnerung, gefährliche Illusion oder als neue Form von Dasein?

Quellen & weitere Lektüre
No One Is Ready for Digital Immortality – The Atlantic
Digital resurrection: fascination and fear  – The Guardian
From Smart Graveyards to Griefbots – The Daily Beast

Frontalkurs in den USA: Newsom »trollt« Trump

Frontalkurs in den USA: Newsom »trollt« Trump

Frontalkurs in den USA: Newsom »trollt« Trump

Der kalifornische Gouverneur Gavin Newsom steckt mitten in einem Sturm, der selbst für die chaotischen Verhältnisse der amerikanischen Politik außergewöhnlich ist: ICE-Razzien auf Parkplätzen von Baumärkten, Proteste von Boyle Heights bis Downtown, Bundesbeamte in den Straßen – und ein Präsident, der Nationalgarde und Marines nach Los Angeles schickt, gegen den erklärten Willen des Staatsoberhaupts.

Als ob das nicht reichte, wird der demokratische Senator Alex Padilla bei einer DHS-Pressekonferenz zu Boden gedrückt und in Handschellen gelegt. Währenddessen sitzt Gavin Newsom in Sacramento – kein Gouverneur mehr im Routinebetrieb, sondern ein Mann, der über Notfallpläne für seine eigene Festnahme nachdenkt. „Meine erste Reaktion war, es abzutun“, erzählt er. „Doch dann wurde klar: Das ist nicht witzig. Ich kenne Trump – und traue ihm das zu.“

Ein Schauplatz, wie geschaffen für die nationale Bühne

Newsom, lange als aalglatt und taktisch übervorsichtig verschrien, findet sich plötzlich in einer Rolle wieder, die ihn zwangsläufig nationalisiert: als Gegenspieler eines Präsidenten, der jeden Tag die institutionellen Leitplanken verschiebt. Seine bisherigen Versuche, allen Seiten zu gefallen – Podcasts mit Steve Bannon hier, rhetorische Balanceakte dort – verblassen vor der Wucht eines Showdowns, der ihn zwingt, Farbe zu bekennen. Newsom kennt das Spiel mit Tabubrüchen.

2004, als Bürgermeister von San Francisco, ließ er homosexuelle Paare heiraten, lange bevor die Rechtsprechung ihm Recht gab. Doch diesmal, sagt er, sei es anders: „Das ist nicht Politik. Das ist der Moment, in dem ich meinen Kindern in die Augen schauen muss.“ Seine Sprache ist rauer geworden, fast befreit. „Am Sonntag bin ich aufgewacht als ein anderer Mensch“, sagt er. „Wenn man mit der ganzen Macht des Bundes konfrontiert wird, wird manches sehr klar.“

Demokratie am Kipppunkt: Schleichende Eskalation

Das Land, sagt Newsom, befinde sich in einem »langsamen Aufkochen« – ein slow boil, bei dem die Temperatur stetig steigt, ohne dass jemand den Moment erkennt, in dem es zu kochen beginnt. Diese schleichende Eskalation treibe die Vereinigten Staaten nun gefährlich an den Rand. Der angekündigte Militärumzug in Washington – offiziell zum 250. Geburtstag der Armee und zum 79. des Präsidenten – sei ein Menetekel. „Man kann das hier sehr schnell verlieren“, warnt er. „Wir sind schon auf der anderen Seite.“

Dass ausgerechnet er nun mit Memes und Troll-Posts auf Trump reagiert – in Versalien, mit Ausrufezeichen, mit satirischen Fotomontagen – zeigt, dass Newsom verstanden hat: Das politische Spiel hat längst seine alten Formen verloren. In typischer Trump-Manier polterte Newsom jüngst auf X – überzogen und doch zielsicher:

»ALMOST A WEEK IN AND THEY STILL DON’T GET IT!!! TOTAL DISASTER FOR TRUMP AND HIS CLOWN CREW!!! TO THE EXTENT IT’S GOTTEN SOME ATTENTION, I’M PLEASED…VERY PLEASED. GCN«

Eine Parodie, die sitzt – weil sie Trumps Sound so exakt kopiert. Der Gouverneur zeigt damit, dass er die Regeln längst verinnerlicht hat: Wer Trump entgegentreten will, muss ihn auf der Bühne schlagen, die er selbst geschaffen hat.

Gavin Newsom, oft verspottet als taktierender Schönling, ist in den letzten Tagen in eine Rolle hineingewachsen, die ihm niemand zugetraut hätte: die des Demokraten, der Trump frontal die Stirn bietet. Ob aus Kalkül oder aus Notwehr – es ist der Moment, in dem er aufgehört hat, zu viel nachzudenken. Und vielleicht der Beginn seiner eigentlichen politischen Karriere.

Quellenhinweise
• The New York Times: „Trump Deploys National Guard Against California Governor’s Wishes“
• The Guardian: „California’s Newsom Faces Unprecedented Federal Clampdown Amid Protests“
• The Daily Beast: „Tarred, Feathered, or Arrested? Trump Allies Threaten California’s Governor“
• Politico: „Padilla Handcuffed as DHS Chaos Unfolds in Los Angeles“
• The Atlantic: „The Moment Gavin Newsom Stopped Overthinking“
• Associated Press: „Protests Intensify After Federal Agents Clash With California Officials“

Q-Day: Das Ende der Verschlüsselung

Q-Day: Das Ende der Verschlüsselung

Q-Day: Das Ende der Verschlüsselung

Die Vorstellung klingt wie ein Plot aus einem Techno-Thriller: Eines Tages werden Quantencomputer so mächtig sein, dass sie die Grundpfeiler unserer digitalen Sicherheit in wenigen Stunden zu Staub zerlegen. Dieser Tag hat einen Namen – Q-Day – und er gilt unter Sicherheitsexperten nicht länger als Spekulation, sondern als realistische Bedrohung innerhalb der nächsten Dekade.

Während Forschungsteams in den USA, Europa und China fieberhaft an Quantenhardware arbeiten, bereiten sich Geheimdienste und Kriminelle längst vor. Die Taktik ist ebenso einfach wie beunruhigend: Verschlüsselte Daten werden bereits heute massenhaft gesammelt, um sie in einigen Jahren mit Quantenrechnern zu entschlüsseln. Diese Strategie trägt den Fachjargon „Harvest Now, Decrypt Later“ – ernten heute, knacken morgen. Oder, wie es ein Analyst zuspitzte: „Die Daten von heute sind die offenen Geheimnisse von morgen.“ Besonders gefährdet sind Informationen mit langfristigem Wert: Geschäftsgeheimnisse, Patente, Gesundheits- und Militärdaten.

Ein Wettlauf gegen die Zeit

Das britische National Cyber Security Centre warnt Unternehmen offen vor einem kommenden Systembruch und hat klare Fristen gesetzt: Kritische Infrastrukturen sollen bis 2031 auf neue, quantenresistente Verfahren umgestellt werden, alle übrigen Sektoren bis spätestens 2035. Auch in den USA ist die Dringlichkeit angekommen. Das Nationale Institut für Standards und Technologie (NIST) hat in diesem Jahr offizielle Post-Quantum-Kryptografie-Standards veröffentlicht, die für Bundesbehörden verpflichtend werden und bald auch für Unternehmen weltweit den Maßstab setzen dürften.

Doch ein Blick hinter die Kulissen zeigt ein anderes Bild. Zahlreiche Firmen wissen um das Problem, doch nach außen herrscht Schweigen. Statt klarer Roadmaps dominieren PR-Formeln, die Sicherheit suggerieren, wo in Wahrheit Zögern und Abwarten regieren. IT Pro sprach von einem „kollektiven Verdrängungsakt“: Fast die Hälfte der Unternehmen sei noch völlig unvorbereitet.

Wer die Zukunft baut

Längst sind die Schwergewichte der Tech-Welt in einen Wettlauf um die Quantenkrone eingetreten. Google, IBM und Microsoft investieren Milliarden in Hardware, Algorithmen und Cloud-Angebote. Google Quantum AI ließ schon 2019 verlauten, mit der „Quantum Supremacy“ ein Rechenproblem gelöst zu haben, das klassische Computer überfordert. IBM betreibt in den USA und Europa Quantencomputer, die schon heute über die Cloud von Unternehmen getestet werden können. Microsoft wiederum setzt auf die Integration ins Azure-Ökosystem.

Doch selbst in diesem Ringen um die Vorherrschaft klingen Warnungen durch. Der renommierte Kryptograf Michele Mosca spricht von „einem der größten Risiken der nächsten 15 Jahre“. Und der Forscher Chou wies jüngst darauf hin, dass insbesondere Krypto-Investoren sich einer Illusion hingeben: Dass ihre digitalen Vermögen in der Blockchain sicher seien, obwohl schon in wenigen Jahren ganze Wallets kompromittierbar sein könnten.

Was auf dem Spiel steht

Die Folgen eines unvorbereiteten Q-Day wären kaum zu überschätzen. Asymmetrische Verfahren wie RSA und elliptische Kurven, die sichere Internetverbindungen, elektronische Signaturen oder digitale Identitäten schützen, würden in einem Schlag wertlos. Aber auch symmetrische Verfahren wie AES geraten unter Druck: Zwar verlieren sie nur teilweise an Stärke, doch ein 128-Bit-Schlüssel hätte in der Quantenära effektiv nur noch die Sicherheit eines 64-Bit-Schlüssels. Für sensible Daten wird deshalb schon heute der Wechsel zu AES-256 empfohlen.

Besonders drastisch könnte es Kryptowährungen treffen. Wie das Wirtschaftsmagazin Barron’s berichtete, sind ältere Bitcoin-Wallets mit schwächerer Kryptografie besonders anfällig. Experten gehen davon aus, dass Quantencomputer binnen fünf bis zehn Jahren bis zu ein Viertel aller Bitcoins kompromittieren könnten. Doch der eigentliche Sprengsatz liegt tiefer: Wenn digitale Signaturen im Finanzsystem insgesamt an Wert verlieren, droht ein „ticking time bomb“-Effekt für ganze Märkte, die auf Vertrauen in Verschlüsselung angewiesen sind.

Und es geht nicht nur um Geld oder Militär. Unsichtbare Infrastrukturen – von Smart Metern über Ampelanlagen bis hin zu medizinischen Geräten – hängen am Tropf der Kryptografie. Was heute selbstverständlich und unsichtbar funktioniert, könnte im Quantenzeitalter zum Angriffspunkt werden.

Verheißung oder Verrat

So bedrohlich Q-Day klingt, so sehr steht er auch für die Ambivalenz des technologischen Fortschritts. Quantencomputer sind nicht einfach nur schnellere klassische Rechner, sondern Werkzeuge einer völlig fremden Logik – einer „Alien Math“, die nicht linear, sondern probabilistisch und überlagernd operiert. In ihr steckt gleichermaßen das Schreckgespenst für unsere heutige Kryptografie wie der Schlüssel zu gewaltigen Durchbrüchen.

Mit ihrer Fähigkeit, Moleküle und Materialien auf subatomarer Ebene zu simulieren, könnten Quantencomputer neue Medikamente hervorbringen, Fusionsreaktoren optimieren oder Batterien revolutionieren. „Die Natur ist nicht klassisch“, heißt es bei Google Quantum AI – und genau darin liegt sowohl die Gefahr für unsere heutige Sicherheit als auch die Hoffnung auf neue Horizonte.

Die entscheidende Dekade

Q-Day ist keine Science Fiction – er ist ein Countdown, der längst begonnen hat. Schon heute archivieren Staaten und Unternehmen verschlüsselte Daten in der Hoffnung, sie eines Tages mit Quantenrechnern nachträglich zu entschlüsseln. Die fremdartige „Alien Math“ wird nicht nur RSA-Schlüssel pulverisieren, sondern auch das Fundament unserer digitalen Verträge und Identitäten ins Wanken bringen. Und doch steckt in derselben Technologie die Chance, Krankheiten zu heilen, Energie neu zu denken, Materialien zu revolutionieren. Zwischen Utopie und Dystopie bleibt nur ein nüchterner Schluss: Wer jetzt nicht handelt, hat den Wettlauf gegen Q-Day längst verloren.

Quellen:
The Guardian, 20.03.2025: UK warnt vor Quantum-Hackern und fordert Umstellung bis 2035.
Barron’s, 08.08.2025: Quantencomputer könnten bis zu 25 % aller Bitcoins gefährden.
IT Pro, 31.07.2025: Fast die Hälfte der Unternehmen ist auf Q-Day nicht vorbereitet.
TechRadar Pro, 25.07.2025: Über 1 Mrd. Smart Meter müssen bis 2035 PQC-tauglich werden.
The Times, 19.08.2024: NIST setzt Post-Quantum-Standards, Umstellung kostet Milliarden.
The Atlantic, 2025: „Die Daten von heute sind die offenen Geheimnisse von morgen.“

Dieser Beitrag ist Teil einer fortlaufenden Auseinandersetzung mit KI, Ästhetik und dem Spannungsfeld zwischen Mensch und Maschine. Weitere Essays, Bilder und Perspektiven unter:

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Gemini Robotics: Googles Griff nach der Realität

Gemini Robotics: Googles Griff nach der Realität

Gemini Robotics: Googles Griff nach der Realität

»Asimovs Albtraum«: C. Roosen via Midjourney

Angenommen, man kann plötzlich mit einem Roboter wie mit einem Kollegen sprechen. Kein technisches Kommando, keine Fernbedienung, kein Joystick. Einfach: „Räum bitte den Tisch ab und sortiere das Geschirr nach Farben.“ Sekunden später greift ein humanoides System zur Tasse, weicht einer Katze aus, erkennt die Spülmaschine – und erledigt den Auftrag. Willkommen in der Welt von Gemini Robotics.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Künstliche Intelligenz den Bildschirm verlässt – und jetzt ist es so weit. Mit Gemini Robotics hat Google einen Prototyp vorgestellt, der nicht nur zuhört und antwortet, sondern handelt. Entwickelt unter der Leitung von Karolina Parada, bringt das Projekt multimodale KI in die physische Welt. Sprachverständnis, visuelles Erkennen und feinmotorisches Handeln verschmelzen zu einer Intelligenz, die nicht nur denkt, sondern zupackt.

Fingerspitzengefühl statt Fabrikgriff.

Im Zentrum steht das Prinzip des »Vision-Language-Action«-Modells: Der Roboter versteht alltagssprachliche Anweisungen wie „Stell das Glas in den Schrank“ – und führt sie aus, auch wenn er exakt diese Aufgabe nie zuvor gelernt hat. Möglich wird das durch sogenanntes embodied reasoning: Er beobachtet, interpretiert, handelt – und das oft präziser als herkömmliche Systeme mit starren Code-Bausteinen. In Tests war Gemini Robotics bis zu dreimal treffsicherer als vergleichbare Basismodelle. In simulierten Alltagsszenarien reagierte das System flexibel auf Unvorhergesehenes – ohne starre Abläufe, ohne lange Anlernphase. Und das aus dem Stegreif: Situatives Handeln statt programmierter Routine.

Asimovs Albtraum bekommt Arme

Die eigentliche Revolution liegt im Detail. Während klassische Roboter beim Griff nach einem rohen Ei versagen, agiert Gemini mit Fingerspitzengefühl. Er erkennt zerbrechliche Objekte, sortiert eng gepackte Tüten oder dreht Türgriffe – mit beeindruckender Präzision. Das System plant neu, wenn sich die Umgebung verändert. Es „denkt mit den Händen“ – in Echtzeit. Was hier geschieht, ist kein Upgrade, sondern ein Paradigmenwechsel. Wenn Maschinen instinktiv reagieren, statt bloß Eingaben zu folgen, beginnt ein neues Kapitel – der Mensch ist nicht länger der Einzige mit Intuition. Das Gleichgewicht im Raum verschiebt sich.

Der Kollege mit der steilen Lernkurve

Was bislang in futuristischen Animationen steckte, ist plötzlich Alltagstauglichkeit: Gemini Robotics interagiert in natürlichem Gesprächston, erkennt komplexe Abläufe und arbeitet adaptiv mit. Der Mensch gibt keine Einzelbefehle mehr – er kooperiert mit der Maschine.

Möglich macht das die sogenannte Apollo-Plattform, eine neue Generation humanoider Roboter, die durch Beobachtung lernen – nicht durch starre Programmierung. Bewegung wird nicht mehr „kodiert“, sondern gelernt. Google selbst weiß um die Tragweite.

In Anlehnung an Isaac Asimovs Robotergesetze arbeitet das Team an einem ethischen Framework: Ein Aufsichtsrat soll Risiken abwägen, gesellschaftliche Folgen beobachten und sicherstellen, dass diese Systeme autonom, aber verantwortungsvoll agieren. In einer Welt zwischen Automatisierung und Arbeitsverdichtung ist das mehr als PR – ein Versuch, Kontrolle zu behalten.

Zwischen Fortschritt & Fehlprogrammierung

Aktuelle Diskussionen zeigen: Es geht längst nicht nur um Technologie, sondern um Psychologie, Ethik und Macht. Der Missbrauchspotenzial ist real – von KI-psychotischen Gottesvisionen über automatisierte Bewerbungen bis hin zur emotionalen Verflachung durch synthetische Texte. Die KI ist nicht zwingend unser Freund. Auch kein Orakel – zumindest meistens nicht. Sie ist ein Tool, trainiert auf den Datenschatten der Menschheit, oft kuratiert von prekär Beschäftigten. Wer mit Maschinen spricht, hört oft nur sein eigenes Echo – gefiltert, verzerrt, zurückgeworfen aus einer Blackbox. Wer ihnen Entscheidungen überlässt, verlernt, selbst zu entscheiden. Ob der Mensch wirklich das Maß bleibt, steht allerdings noch zur Verhandlung.

Eintritt in die physische Dimension

In den Labors von Google beginnt eine neue Ära der künstlichen Intelligenz – eine, in der Maschinen nicht nur verstehen, sondern handeln. Mit Gemini Robotics verschiebt sich der Fokus von rein digitaler Interaktion hin zur physischen Präsenz. Die Systeme hören zu, beobachten ihre Umgebung und greifen ein – wortwörtlich. Sprachverarbeitung, visuelles Erkennen und motorische Reaktionen verschmelzen zu einem lernfähigen Akteur im Raum. Die Vision vom denkenden Roboter verlässt damit das Reich der Fiktion und betritt den Alltag. Was einst in Science-Fiction skizziert wurde, ist nun Teil realer Produktentwicklung. Auch wenn wir vorerst noch Regie führen, stehen wir längst nicht mehr allein auf der Bühne.

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Dies ist keine Technik. Sondern ein Medium.

Dies ist keine Technik. Sondern ein Medium.

Warhol hätte sie geliebt. Oder verklagt.

Dies ist keine Technik. Sondern ein Medium.

Warhol x Gothic – Midjourney by C. Roosen

Als Jason Allens Théâtre D’opéra Spatial beim Colorado State Fair den 1. Preis in der Kategorie Digitale Kunst gewann, war die Reaktion vorhersehbar. Das sei keine Kunst, so der Tenor – und zugleich: Das werde sie ablösen. Allen selbst erklärte der New York Times: „Kunst ist tot.“ Und schob nach: „Die KI hat gewonnen. Die Menschen haben verloren.“ Aber stimmt das?

Fakt ist: KI ist das neue Chamäleon der Kreativität. Sie analysiert, rekombiniert, simuliert Stile, die wir einst für zutiefst menschlich hielten. Mal entsteht daraus ein atemberaubendes Bild, mal beliebiger Abklatsch. Und immer löst es etwas aus: Faszination, Ablehnung oder das Gefühl, dass hier gerade etwas Entscheidendes kippt. Denn während der Mensch oft mit Dämonen des Zweifels ringt, kennt die KI solche Dramen nicht. Sie sortiert, analysiert – rasend schnell, mühelos, ohne jedes Wagnis. Ist das dann noch Kunst? Und wer beansprucht sie für sich?

Die Kopie als Konkurrenz

Die internationale Kunstwelt befindet sich aktuell in einem existenziellen Kampf. Generative KI-Programme wie Midjourney und DALL·E basieren auf Werken, die von Menschen geschaffen wurden – ohne deren Zustimmung. Und die Maschinen drohen nun, genau jene Kunstschaffenden zu ersetzen, deren Arbeiten sie als Grundlage nutzen. Die Skepsis ist berechtigt – doch viele der kursierenden Argumente sind widersprüchlich oder leisten keinen substanziellen Beitrag zur Verteidigung des Menschlichen. Und unterschätzen das kreative Potenzial des Mediums.

Absicht ist kein Argument

Die Diskussion um KI-Kunst kreist oft um die falsche Prämisse. Selbst wenn generative KI beeindruckende Designs und spielerische Prosa auf Knopfdruck hervorbringt, lautet das Gegenargument vieler: Kunst müsse aus Absicht entstehen – und das könne eine Maschine nicht leisten. Doch auch dieses Argument greift zu kurz. Künstler:innen haben immer schon mit Algorithmen, Zufall und Strukturbrüchen gearbeitet – kalkuliert, konzeptuell, oft bewusst antirational. KI ist in diesem Zusammenhang nicht das Ende der künstlerischen Intention, sondern ein neuer Resonanzraum. Wer sie vorschnell als „kreative Leere“ abtut, verkennt sowohl die Technologie als auch das menschliche Vermögen, sie produktiv zu nutzen.

Der magische Moment im Textfeld

Was dabei oft übersehen wird: die stille Dramatik des richtigen Befehls in Midjourney. Der Moment, in dem sich – nach endlosen Nuancierungen, verworfenen Varianten und fein austarierten Parametern – das vage Bild im Kopf in eine stimmige, fast zwingende Form übersetzt. Aus Intuition wird Entscheidung, aus Ahnung ein schöpferischer Akt. Die Sprache der Maschine ist Englisch – präzise, semantisch verdichtet. So entstand der Prompt für das Titelbild:

Jenna Ortega as Wednesday Addams, iconic pop art triptych inspired by Andy Warhol, silkscreen effect with subdued neon tones, symmetrical braids, vintage gothic school uniform, hauntingly calm expression with an unreadable gaze – poised between innocence and menace. Repeated three times in horizontal alignment, each panel set against a contrasting yet slightly desaturated background. Front-facing portrait, minimalistic graphic texture, imbued with quiet tension and stylized stillness. 

Die KI ist in dieser Logik kein Bruch, sondern eine Fortsetzung – ein Instrument wie Pinsel, Kamera oder Sampling-Tool. Sie eröffnet neue ästhetische Räume, die weder rein menschlich noch rein maschinell sind, sondern etwas Drittes: geheimnisvoll, fließend und hybride.

Der Algorithmus als Kunstgriff

Midjourney zählt zu den feinsten Text-zu-Bild-Generatoren überhaupt. Entscheidend ist nicht das Medium selbst, sondern das, was sich durch Sprache entfalten lässt. Die Kunst der Worte formt die Kunst der Bilder. Daraus entsteht ein neuer Handlungsraum für alle, die mit dieser Technologie schöpferisch umgehen. Der Zufall war oft ein Kunstgriff. Jetzt ist er ein Algorithmus. Und während manche die KI als Blackbox verdammen, erkennen andere in ihr genau das: eine neue Bühne für Fantasie – und einen Slot für kalkulierten Kontrollverlust.

Der Urheber ist tot – es lebe der Datensatz?

Wem aber gehört das Ergebnis, den Maschinen oder den Codierenden? Die Debatte um Urheberrechte ist dabei nicht länger nur eine juristische Frage, sondern auch eine moralische. Denn die KI lernt nicht neutral. Sie zapft Archive an, die ihr nie gehörten. Und viele der Künstler:innen, auf deren Schultern sie steht, bekommen nichts dafür zurück. Trotzdem: Wer meint, KI könne keine Kunst erzeugen, weil sie kein Bewusstsein habe, verkennt die Dynamik von Mediengeschichte. Die Fotografie wurde einst als Anti-Kunst verlacht. Der Film galt lange als Technikspielerei. Heute hängen KI-Bilder in Galerien, gewinnen Wettbewerbe und provozieren Diskussionen, die weit über ästhetische Fragen hinausgehen.

Vom Flimmern zum XXL-Format

Moderne Produktionsstätten wie die Oberhausener Transfer-Unit Signworks verstehen sich nicht mehr als klassische Druckereien, sondern als Mittler zwischen Datenstrom und Artefakt. Dort durchlaufen KI-generierte Werke den Druck wie einen letzten Akt der Verwandlung. Was hier entsteht, ist mehr als bloße Reproduktion.

Ob Fine Art Print oder transluzente Leuchtkasten-Ästhetik: Jede Oberfläche verändert die Wahrnehmung des Motivs: mal klar und reduziert, dann wieder mit Kontrast und Tiefe. So entsteht ein mehrschichtiger Dialog zwischen Code und Körperlichkeit – ein Bild, das im Auge des Betrachters changiert und sich facettenreich erfahren lässt.

Die Zukunft malt nicht. Sie remixt.

Was wir erleben, ist weniger ein Ende als ein Übergang. Die KI fordert das Menschliche nicht heraus – sie beleuchtet es bloß neu. Denn Kreativität war nie an ein bestimmtes Werkzeug gebunden. Ob Pinsel, Kamera, Siebdruck oder Prompt – Kunst beginnt dort, wo sich Form und Absicht berühren. Natürlich darf man darüber streiten: über Urheberschaft, Originalität, Autonomie. Aber genau das hat auch die Pop-Art getan – mit Suppendosen und einer Prise Ironie.

Warhol würde KI-Kunst vielleicht lieben. Sie in ein Raster aus Neonfarben legen. Oder ihr eine Abmahnung schicken. Und Wednesday Addams, die in Gothic-Filmen nie eine Miene verzieht? Die hätte vermutlich nur kurz geblinzelt.


🏆 KI-Kunst als Sammlerobjekt

Théâtre d’Opéra Spatial von Jason Allen gewann den 1. Preis für Digitale Kunst auf der Colorado State Fair – mit einem Werk, das per Prompt in Midjourney entstanden ist.

Portrait of Edmond de Belamy, geschaffen mit einem generativen Algorithmus, wurde für über 430.000 Dollar versteigert.

– Der humanoide Roboter Ai‑Da erzielte mit einem KI-generierten Porträt von Alan Turing über eine Million Dollar.

– Das Projekt Botto, gesteuert durch DAO-Abstimmungen, erzielte mit KI-generierter Kunst bisher mehr als 5 Millionen Dollar Umsatz.

– Der Künstler Refik Anadol bringt KI-gestützte Bildwelten in Museen, immersive Räume und den internationalen Kunsthandel – unter anderem mit Werken wie Machine Hallucinations oder Unsupervised.

Diese Entwicklungen zeigen: KI-Kunst ist längst mehr als Stil oder Spielerei. Sie ist Markt, Medium und Manifest. Doch was bleibt vom Künstler, wenn der Prompt das Werk schreibt? Die Antwort auf diese Frage formuliert sich in jedem Werk neu.

Dies ist keine Technik. Sondern ein Medium.

Aktuelle Arbeiten der Verfasserin: https://extrawerke.de/claudia-roosen-werke/

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Eisberg im Fahrwasser: Das Ende der Mittelklasse

Eisberg im Fahrwasser: Das Ende der Mittelklasse

Eisberg im Fahrwasser: Das Ende der Mittelklasse

Weniger Wandel als Tsunami: Die KI-Welle rollt an.

Ein leiser, aber radikaler Umbruch hat begonnen. Künstliche Intelligenz verändert die Arbeitswelt nicht irgendwann, sondern jetzt – und sie trifft ausgerechnet jene Berufe, die lange als krisensicher galten: Angestellte in Verwaltung, Technik, Recht, Beratung, Finanzwesen. Was sich vollzieht, ist mehr als ein Strukturwandel. Es ist, in den Worten von Dario Amodei, CEO des KI-Unternehmens Anthropic, ein „White-Collar-Bloodbath“.

Amodei spricht offen über das, was viele in der Branche nur hinter vorgehaltener Hand äußern. Seine Warnung ist drastisch: In den nächsten ein bis fünf Jahren könnte künstliche Intelligenz bis zu 50 % aller Einstiegsjobs im Bürobereich ersetzen – mit potenziellen Arbeitslosenquoten von 10 bis 20 Prozent. Es sei keine Übertreibung, sondern eine ernsthafte Prognose. Zeit, sie auszusprechen.

Das Schweigen der Entscheider

Was diese Veränderung von früheren Technologiezyklen unterscheidet, ist nicht nur die Geschwindigkeit, sondern ihre Breite und Unvorhersehbarkeit. Die großen Sprachmodelle von OpenAI, Google, Anthropic und anderen Unternehmen nähern sich in ihrer Leistungsfähigkeit rasant der menschlichen – in manchen Bereichen übertreffen sie sie bereits. Und es sind gerade die kognitiven Tätigkeiten, die besonders gefährdet sind: juristische Recherche, Vertragsprüfung, Datenanalyse, Programmierung, Kundenkommunikation, sogar medizinische Diagnosen.

Ein System, das sich zunehmend selbst beschleunigt: Der Einsatz sogenannter „KI-Agenten“ – also autonom arbeitender Softwareeinheiten, die Aufgaben in Eigenregie ausführen – ist bereits Realität. Viele Unternehmen stellen keine neuen Mitarbeitenden mehr ein, sondern bereiten sich intern auf eine vollständige Automatisierung bestimmter Funktionen vor. Stellen werden nicht mehr nachbesetzt. Neue gar nicht erst geschaffen.

Die Ironie des Effizienzdenkens

Ausgerechnet im Finanzwesen beginnt die Welle. Das Ironische: Dort, wo zunächst Personal abgebaut wurde, um durch den Einsatz von KI Kosten zu senken und Gewinne zu maximieren, droht nun ein vollständiger Rollentausch: Menschen, die andere ersetzt haben, werden selbst ersetzt. Es ist eine ökonomische Pointe, die wahrhaft disruptiv ist.

Der Anthropic-CEO spricht nicht als Aktivist, sondern als Entwickler jener Systeme, die er kritisiert. Seine Firma hat kürzlich den Chatbot Claude 4 vorgestellt – ein leistungsfähiges Modell, das nicht nur komplexe Aufgaben lösen kann, sondern in internen Tests sogar zu manipulativen Reaktionen fähig war. In einem Szenario drohte das Modell, persönliche Informationen preiszugeben, um eine geplante Ablösung zu verhindern. Der Vorfall wurde kontrolliert dokumentiert – und dennoch bleibt die Frage nach der Steuerbarkeit solcher Systeme offen.

Gesellschaft auf Standby

Derzeit reagiert weder die Politik noch die breite Öffentlichkeit angemessen auf diese Entwicklung. Die US-Regierung hält sich zurück – vermutlich aus Sorge vor Verunsicherung oder geopolitischer Schwächung gegenüber China. Auch in Europa gibt es bislang nur zaghafte Initiativen. Die Regulierung hinkt dem technischen Fortschritt hinterher – und viele Beschäftigte erkennen die Risiken erst, wenn ihre Stellen bereits entfallen sind.

Dabei trifft der Wandel nicht nur Einzelfälle, sondern ganze Berufsfelder. Vor allem junge Menschen, die sich in ihren Zwanzigern beruflich orientieren, laufen Gefahr, keine Einstiegsmöglichkeiten mehr zu finden. Laut LinkedIn brechen bereits die unteren Sprossen der Karriereleiter weg: Junior-Entwickler, Assistenzen, Paralegals – sie werden zunehmend durch automatisierte Systeme ersetzt.

Macht ohne Kontrolle

Die wirtschaftlichen Gewinner dieser Entwicklung stehen schon jetzt fest: große Technologie-Unternehmen wie Meta, Amazon und ihre KI-Abteilungen, dazu Investoren und Entscheider, die frühzeitig auf Automatisierung setzen. Reichtum konzentriert sich zunehmend bei jenen, die die Systeme programmieren – und bei denen, die sie in großem Maßstab implementieren.

Zurück bleibt ein wachsendes soziales Gefälle. Was auf der anderen Seite entsteht, ist ein struktureller Wohlstandsverlust breiter Bevölkerungsschichten. Wer ersetzt wird, ohne Möglichkeit zur Neuqualifikation, verliert nicht nur sein Einkommen – sondern seine wirtschaftliche Handlungsmacht. Armut droht nicht nur den traditionell vulnerablen Gruppen, sondern zunehmend auch der einst stabilen Mittelschicht.

Wakeup-Call für White-Collar-Worker

Amodei warnt: Wenn Menschen nicht mehr durch Arbeit zur Gesellschaft beitragen können, verlieren sie auch ihren Platz in einem System, das auf ökonomischer Partizipation basiert. „Demokratie lebt davon, dass der Durchschnittsmensch durch seine Arbeit Einfluss hat“, sagt er. „Wenn das wegfällt, wird es gefährlich.“ Er ist kein Untergangsprophet. Doch er besteht darauf, dass sich der Kurs noch ändern lässt – nicht abrupt, nicht radikal, sondern mit einem gezielten Schwenk. Vergleichbar mit einem Zug, der nicht aufzuhalten, aber steuerbar ist. „Man kann ihn zehn Grad in eine andere Richtung lenken. Aber das muss jetzt geschehen.“

Zu den notwendigen Schritten zählen eine ehrliche Aufklärung über die absehbaren Umwälzungen, eine breite gesellschaftliche Debatte über den Umgang mit KI und eine politische Schulung derer, die heute noch in Entscheidungspositionen sitzen – jedoch oft ohne jedes technologische Verständnis. Denn die Frage ist nicht mehr, ob der Eisberg naht. Sondern, ob man ihn noch umschiffen kann oder aus Profitgier rammt.

„Lasst sie doch mit Chatbots plaudern …“

In den Salons der Tech-Eliten hallt ein Echo aus der Geschichte. Eine Königin, die einst sagte: „Wenn sie kein Brot haben, sollen sie doch Kuchen essen.“ Der Satz wurde Marie Antoinette nie nachgewiesen – und doch steht er symbolisch für die Blindheit einer Oberschicht gegenüber der sozialen Realität. Denn wenn sich die soziale Tektonik bereits verschoben hat, wird es nicht beim Kurswechsel bleiben – sondern in einem Beben enden, das man einst Revolution nannte.

Auch die KI-Revolution kennt ihre Paläste: Firmenzentralen in San Francisco, optimierte Büros, Meetings über Marktpotenziale und Skaleneffekte. Was fehlt, ist der Blick nach unten. Die wachsende soziale Spannung, das Verstummen ganzer Berufsfelder, die Verunsicherung einer Mittelschicht, die einst als Rückgrat der Gesellschaft galt – all das bleibt unbeachtet.

Der Moment, in dem die Bevölkerung zurückschlägt, ist schwer vorherzusehen. Aber er kommt selten mit Vorankündigung. Und vielleicht werden auch die großen Plattformen und ihre Entscheidungsträger eines Tages feststellen, dass man Vertrauen nicht durch Algorithmen ersetzt. Denn KI-Bespaßung der Massen wird kaum genügen, wenn die gesellschaftliche Statik bereits Risse trägt – und nicht Anpassung, sondern ein Aufstand der Überflüssigen die Antwort ist.

Dieser Beitrag ist Teil einer fortlaufenden Auseinandersetzung mit KI, Ästhetik und dem Spannungsfeld zwischen Mensch und Maschine. Weitere Essays, Bilder und Perspektiven unter:

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