Verzerrte Realitäten: Was ist Wirklichkeit, was Wahrnehmung?
US-Radar: Was ist, wenn beide Seiten Unrecht haben, was die Auswirkungen der Debatte betrifft?
Die Reaktion der Demokraten auf die Debatte am Donnerstag war, als würde man die Phasen des Kübler-Ross-Modells der Trauer in raschem Tempo ablaufen sehen. Es gab Verleugnung („Er hat eine Erkältung“), Wut („Wie konnten die CNN-Moderatoren das nur ohne Intervention zulassen?!“), Verhandeln („Okay, wir können ihn ersetzen“), Depression („Die Wahl ist ungewinnbar“) und schließlich Akzeptanz („Wir stehen zu unserem Kandidaten!“). Die Republikaner hingegen schwelgten in Euphorie: Nichts weniger als ein Erdrutschsieg à la Carter-Reagan stände jetzt an.
Fakt ist: Der schwache Auftritt von US-Präsident Joe Biden in der TV-Debatte mit Donald Trump hat die Spekulationen über einen möglichen Austausch des demokratischen Kandidaten angeheizt. Unlängst schaltete sich auch der renommierte Wahlvorhersager Allan Lichtman ein. In einem Interview mit dem Sender CNN warnte der US-Historiker die Demokratische Partei davor, Biden zu ersetzen: „Eben jene selbst berufenen Experten, die uns 2016 in die Irre geführt haben, geben den Demokraten nun einen fatalen Rat. Für mich beweist diese Stimmungslage, was ich seit Jahren sage: Die Republikaner haben keine Prinzipien und die Demokraten kein Rückgrat.“ Die öffentliche Meinung hielte derweil an einem „eklatanten Lügner“ fest, der in jeder Minute alle 20 Sekunden dieser Debatte gelogen habe.
Das alles ist nur eine Momentaufnahme, ich schreibe deshalb diese Kolumne mit einer gewissen Vorsicht. Eine Flut von Umfragen könnte jederzeit herauskommen und den Eindruck erwecken, dass Trump einen massiven Vorsprung hat. Ein führender Meinungsforscher der Biden-Kampagne hat am Montag neue interne Umfrageergebnisse in Umlauf gebracht. Sie zeigen, dass Bidens Leistung während des TV-Duells die Umfragen kaum negativ beeinflusst hat. Was, wenn am Ende „nichts“ ist? Spulen wir sechs Wochen zurück:
Donald Trump war in einem Gerichtssaal in Manhattan, angeklagt wegen der Fälschung von Geschäftsdokumenten, um eine Affäre mit einem Pornostar zu verbergen. Der Konsens aller Analysten war folgender: Für jede andere Kandidatur wäre dies der Todesstoß. Aber bei Trump ist das alles schon eingepreist. Jeder weiß, dass er ethisch herausgefordert ist. Jeder weiß, dass er dumme Dinge sagt und tut. Es kümmert keinen wirklich.
Ihre Analyse war im Grunde korrekt. Es gab einige Hinweise darauf, dass Bidens Umfragewerte gesunken waren, aber insgesamt änderte sich wenig im Rennen. Was, wenn die meisten Menschen bereits wissen, dass Biden ziemlich fragil ist? Sie haben die teils manipulierten, teils echten Videos gesehen, in denen er vor sich hin murmelt, auf der Bühne stecken bleibt, einfriert oder scheinbar umherirrt. Was, wenn auch das längst eingepreist ist? Weder die Erinnerung an den 6. Januar hat die Dynamik der Kampagne stark verändert, noch wird der nun deutliche Nachweis, dass Präsident Biden ziemlich alt ist, eine bereits verfestigte Wahrnehmung beeinflussen.
Die begrenzten Umfragen, die existieren, abgesehen von parteiischen Meinungsforschern, scheinen diese Einschätzung zu bestätigen. So zeigte Morning Consult am Freitag nach der Debatte Biden sogar mit einem Punkt Vorsprung. In der kürzlich veröffentlichten Umfrage der Nachrichtenagentur Reuters und des Meinungsforschungsinstituts Ipsos gaben gut 39 Prozent der Befragten an, im November für Biden zu stimmen. Ex-Präsident Trump landete bei 38 Prozent. Data for Progress sieht Trump mit drei Punkten Vorsprung. Ihre letzte Umfrage im März zeigte Biden mit einem Punkt Vorsprung. Survey USA zeigte Trump mit zwei Punkten Vorsprung; ihre vorherige Umfrage zeigte ein Unentschieden. In Michigan zeigte EPIC-MRA Trump mit vier Punkten Vorsprung, ebenso ihre vorangegangene Februar-Umfrage.
Und die Lücke zwischen den beiden wird wieder kleiner. In einer Umfrage von Bloomberg News, die in der ersten Juliwoche durchgeführt wurde, sprachen sich 47 Prozent der Befragten für Trump und 45 Prozent für Biden aus. Die Ergebnisse beziehen sich auf die Durchschnittswerte der wahlentscheidenden „Swing States“ Arizona, Georgia, Michigan, Nevada, North Carolina, Pennsylvania und Wisconsin. Dies ist konsistent mit einem bescheidenen Anstieg für Trump. Noch einmal, es gibt hier nicht viele Daten, aber es scheint nicht, als würde das Rennen Biden entgleiten. Das neue Urteil des Obersten Gerichtshofs zur Immunität des Präsidenten wird wahrscheinlich die demokratischen Anhänger für die Unterschiede zu Trump sensibilisieren und dazu beitragen, Abwanderungen oder die Drohung, zu Hause zu bleiben, zu verhindern. Vielleicht zeigt die nächste Reihe von Umfragen etwas anderes.
Würden die internen Umfragen der Demokraten einen Zusammenbruch zeigen, ständen die Parteifunktionäre nicht mehr so entschlossen hinter Biden. Das ist zumindest meine Meinung. Wo das Debatten-Debakel dennoch Auswirkungen hat: Für ihn ist es eine verpasste Gelegenheit. Er wollte doch die Dynamik des Rennens neu entscheiden. Insofern ist es schon ein Rückschlag, zumindest in gewissem Maße. Denn eine weitere Chance zu verspielen kann er sich nicht leisten.
Update: Diese Woche wurde Biden von ABCs George Stephanopoulos auf dem Wahlkampfweg interviewt. Das hochkarätige Format war das erste im Fernsehen ausgestrahlte Interview, an dem der Präsident seit seinem schlechten Abschneiden teilnahm. Die Asymmetrie der Erwartungen hält bis heute an. Liest man das Transkript, sind es nicht seine Worte an sich. Joe Biden gelingt es viel mehr nicht, plötzlich zwanzig Jahre jünger zu erscheinen. Zu groß ist die Diskrepanz zwischen dem kollektiven Präsidenten-Ideal und einem fragilen alten Mann.
Ein CBS/Yougove-Schnappschuss zeigt laut Steve Kornacki, dass allein 45 % der Demokraten glauben, Biden sollte aus dem Rennen aussteigen. Nach einer Umfrage in New Hampshire führt Trump mit 2 Punkten, früher war lag Biden weit vorn. Die Krux: Kamala Harris schneidet nicht besser ab. Das gilt auch für den kalifornischen Gouverneur Gavin Newsom, Gretchen Whitmer aus Michigan und andere potenzielle Nachfolger: sicherlich ein Warnsignal, denkt man an einen Ersatz. Um das „Conundrum“ aufzulösen, sollten die Demokraten beizeiten ein Kaninchen aus dem Hut zaubern und kreativ bleiben. Denn heute berichten informierte Kreise, Biden könnte noch vor dem Nominierungs-Parteitag ausscheiden.
Veröffentlicht am: 02.07.2024 Zuletzt aktualisiert: 04.07.2024, 00:25 Uhr MEZ