Wenn der Einkauf zum Event wird
In Memory of Gisela Muth (†), my beautiful friend – and a Once-in-a-Lifetime-Event!
Im größten Supermarkt Deutschlands ticken die Uhren anders. Sie gehen stets ein wenig vor. Ob Prominenz aus Sport, Politik oder Showbusiness, 20-qm-Kuchen-Sensation oder Azubis mit temporärem Popstar-Status: Hier scheint sich Andy Warhols Prophezeiung zu erfüllen, dass jeder für fünfzehn Minuten berühmt sein kann. Ausgerechnet im Sommerloch setzt der Lebensmittler noch eins drauf. Am 11. August schockt sein Düsseldorfer Flaggschiff mit einer schier gigantomanischen Kunst-Vernissage. Für die Performance wurde der strotoplastische Künstler Rudolf Hürth engagiert, ein Enfant terrible der deutschen Kunstszene. Geht das gut?
Bei EDEKA Zurheide in Düsseldorf Reisholz arbeiten keine Verkäufer. Man trägt am liebsten Schwarz-Gold. Fast jeder im Team hat den Ehrgeiz, sich als Fachberater,Kreativer oder Event-Manager zu profilieren. Die Mehrzahl schafft das auch – so wie Jörg Tittel, alljährlich umgarnt von Prominenten, die Einlass in den VIP-Bereich des Gourmet Festivals begehren; so wie der deutsche Röstmeister und Vizecuptasting-Champion Yildirim Besir, der sein Talent in den Dienst der Kaffeerösterei stellt oder wie Ex-Azubi Patrick Grevenig, der kurzzeitig zu Star-Ruhm gelangt, als ihn RTL-Moderator Daniel Aminati vor laufenden Fernsehkameras zu Deutschlands bester Nachwuchskraft kürt. Will heißen: Bei Zurheide wundert einen nichts mehr. Bis jetzt.Denn der Vollsortimenter stellt erstmalig Kunst im Supermarkt aus. Die Rede ist nicht von ein paar biederen Bildchen, gefällig arrangiert zwischen Blumenstand und Kassenzone.
Die Rede ist von den monumentalen Werken des strotoplastischen Künstlers Rudolf Hürth, allesamt monströse, multidimensionale Kaventsmänner, zum Teil sogar begehbar. Wie begehbar zeigt die Vernissage am 11. August, auf deren Zenit TV-Star Gisela Muth (†) einem der Exponate entsteigt. Der Performance-Akt bildet den Höhepunkt eines lifestyligen Events, dessen prickelnder Reiz nicht nur im edlen Schaumwein liegt, den das Gourmet Mekka offeriert. Sondern auch in der skandallüsternen Frage: Wie tollkühn ist so eine Aktion? Geht der Vorzeige-Supermarkt endgültig zu weit?
Sonst scharfzüngige Kunstkritiker wie Prof. Dr. Zehnder erteilen Absolution. Die Prise Anarchie, meinen sie, sei ein kalkuliertes und kalkulierbares Risiko. Genauso brutal jetztzeitig, unerhört und verstörend müsse Kunst heute sein. Und genau da gehöre sie auch hin: mitten ins Leben, in unseren Alltag und vor allem: mitten ins Herz des Betrachters. Der Geisteswissenschaftler, bekannt für seine feine Sensoren als Zeitgeist-Seismograph, hat sich den Event schon jetzt im Kalender markiert: ein „Must-see“ für alle, die Subversionen lieben, große Inszenierungen – oder einfach nur gutes Essen.
Alle Kunst bewirkt, wenn sie gelingt, einen Ausnahmezustand. Das Erlebnis ist erstmalig, einmalig und in der Form nicht wiederholbar. Die Deutschland-Premiere bei Zurheide stellt jedoch gleich eine mehrfache Ausnahme dar – erstmalig im Ambiente eines Supermarktes, einmalig als Kunstrichtung und einzigartig dank der strotoplastischen Weltneuheit, die vor Ort enthüllt wird: ein multidimensionaler „Hyperraum“, der unsere Seh- und Denkgewohnheiten auf den Kopf stellt. Das Oeuvre von Rudolf Hürth erzählt eine Geschichte.
Sie handelt von kostbaren, alten Weisheiten, der Unsterblichkeit der Seele und dem stärksten aller Gefühle, der universalen Liebe. Da gibt es figürliche Arbeiten ebenso wie rein abstrakte, da imponiert Dynamik neben monumentaler Statik, die Kräfte des Lichts siegen über dunkle, obskure Mächte. Seine strotoplastischen Bilder scheinen zu atmen und leiden auch, auf schöne Art, etwa wie eine Blume Schmerz ausdrücken würde. In dieser Ambivalenz entfalten sie Charakter und Kontur.
„Vergiss alles, was du über Kunst gelernt hast“ scheinen sie zu flüstern, „und begib dich auf fremdes Terrain.“ So energiegeladen sind die Exponate, dass manche Kunstexperten sie als Quantenfelder begreifen. Aufgeladen mit Emotion spielen sie ihr volles Potential aus. Von einer sinnlichen Subversion ist die Rede, von einem radikalen Bruch mit vertrauten Sehgewohnheiten oder von einem erotischen Wagnis. Solange Handy-, Fernseh- und Computerbildschirme noch keine Hologramm-Taste besitzen, hat man eigentlich nur eine Wahl: hingehen – oder eine spektakuläre Ausstellung verpassen.
TEXT: CLAUDIA ROOSEN